Es gibt zu viele Dinge, und zu wenig Material.
Plastizität wird schnell unheimlich. Offenheit bleibt ein beunruhigendes Ideal, das wir bewundern und zugleich auszuschließen suchen, indem wir die Lebendigkeit plastischer Übergänge durch das Raster von Bezeichnungen und Optionen ersetzen. Es gibt schon so viele Dinge, man hängt in so vielen Handlungsketten, und man kann ja schließlich nicht immer wieder von vorn anfangen, um frei beweglich zu bleiben – Muss man aber vielleicht. Unbestimmtes, offenes Material wird immer knapper, je weniger wir uns in Übergängen zu bewegen trauen. Es gibt also zu viele feste Dinge und zu wenig offenes Material.
Jens Nippert geht auf die Dinge los und schlägt Material aus ihnen. Er sucht nach Öffnungen,
Lösungen, Auflösungen und generiert aus bestehenden Festlegungen neues Material. Als
Bildhauer will er den Zustand des Ungeformten, die Fülle der Möglichkeiten nicht an das
abgeschlossene Werk verlieren und wählt einen Ausgangspunkt für seine plastische Arbeit, an
dem der Formverlust zugleich der Beginn eines neuen Werdens ist: Der Verbrauch, die
Abnutzung macht aus den Dingen wieder offenes Material. Nippert arbeitet also gleichzeitig
in zwei gegenläufige Richtungen: Er baut Formen auf aus Dingen, die dabei ihre Form
verlieren. Alltägliche und nahezu wertlose Verbrauchsgegenstände wie Haushaltsrollen (also
Zwischendinge, denen die Auflösung in im weitesten Sinne plastischen Prozessen bereits als
Zweck eingeschrieben ist: „Löslich in allen Wassersystemen.“) werden zu einem zunehmend
formlosen Agglomerat sich auflösender Dinge verarbeitet. Roland Barthes nennt das Agglomerat
„die grundlegende Form des Abscheus“1 – da ist diese Angst
vor dem Breiigen, Unbestimmten,
vor der alles verschluckenden Masse, vor der überwältigenden Unbestimmtheit. In Jens
Nipperts dreidimensionalen Collagen begegnen wir einer saugfähigen Karikatur dieser
Massenangst in Form eines leichten, porösen Verbrauchsgüter-Breis, einer sich aus dem
Verbrauchsprozess speisenden Waren-Plastik, in der Dinge vermüllt werden. Die gestockte
Warenflut, das große Krempel-Protoplasma, das den Verbrauch braucht.
Es beginnt wie im Laden oder im Lager mit dem Aufstapeln von Dingen. Doch anders als im
Einzelhandel setzt hier die plastische Entfaltung der Dinge nicht erst mit der Distribution,
sondern bereits im Bestand ein. Der Stapel wächst zusammen; die Plastik wächst der
Konstruktion über den Kopf. Die Modelliermasse aus eingeweichten Material-Objekten ist
formbar, aber nicht formlos, sie ist eine bildhauerische Chimäre, bei der sich künstlerische
Ausdrucksabsichten mit außerkünstlerischen, quasi-geologischen Prozessen arrangieren müssen.
In vielfältigen Zerfallszuständen und Übergängen ereignen sich zwischen den Dingen Szenen
der Selbstaufgabe und Selbstbehauptung - gegeben wird der Verbrauch als das Drama der
bedeutungslosen Dinge. Vergehen und Werden gehen ineinander über. Die Dinge verschwimmen in
sich selbst, und aus den Dingen löst sich die Materie, aufgehalten in einer dauernden
Bewegung des Werdens. Die ungestalte Masse und das einzelne Objekt überkreuzen sich in einer
Form für das Unfertige. Das noch nicht Erschienene wird ins Bild gesetzt als schlafende
Erscheinung.
Die Dinge müssen verbraucht werden, und das Verbrauchte, Entwertete, der Müll, mit dem
nichts mehr geht, steht Pate für das Unbewertete, mit dem wir wieder von vorn anfangen
können, ohne jemals neutral gewesen zu sein. Alles muss aufgegessen oder irgendwie abgenutzt
werden, damit es weitergeht. Wiederholt erscheint in Jens Nipperts Arbeiten das gelbe X des
Atom-Widerstands („Castor-X“) und zitiert den Atommüll als Metapher für das, was
unverdaulich bleibt, für das zwangsläufige Außen eines jeden Systems, ohne das jede Rechnung
gemacht wird, als Extrem eines Materials, mit dem nichts mehr anzufangen ist, weil es selbst
aktiv wird: Das könnte dann auch wieder Kunst sein.
Jens Nippert produziert Müll und Wert, Material und Form zugleich und bringt damit die
Mechanismen der Wertschöpfung symbolisch durcheinander. Figur und Eimer setzt der
unbeachtet-achtlosen Geste des Wegwerfens mit vermeintlich ökologischen Baustoffen ein
Denkmal. In Pierre II (2015) wird das Wegwerfen zu einer produktiven Handlung gewendet,
indem das Befüllen der Papierkörbe zur Vollendung des plastischen Volumens beiträgt.
Ausgelesenes Recherchematerial, nicht mehr benötigte Papiere werden einfach in die Skulptur
entsorgt. Als Zentrum des Ateliers ist die in Entstehung begriffene Plastik auch dessen
schwarzes Loch, in dem Material und Inhalt verschwinden.
Plastik und Plakat
Die Extrovertiertheit eines Fachwerkhauses
Bild und Text sind dem expressiven Verdauungsprozess der dreidimensionalen Collagen ebenso
unterworfen wie das unbedruckte Rollen-Material. Plakate und Drucke, die äußeren Häute
dieser gefräßigen Litfasssäulen werden immer wieder abgeschält, umgewälzt und damit als
Aussage zurückgenommen, so dass auch Zögern und Zweifeln, einer individuellen mentalen
Ökologie folgend, Bestandteile des Formprozesses werden. Eine Hassliebe zum Plakativen
scheint den Künstler dazu zu nötigen, oberflächliche Botschaften immer wieder und immer
weiter einzuarbeiten. Bilder treten hervor und gehen in tektonischen Subduktionen oder
peristaltischen Einstülpungen in den wachsenden Körper der Plastik ein, bis das Motiv mehr
inkorporiert denn sichtbar bezeichnet ist. Manche Bilder werden bis zur Unkenntlichkeit
verarbeitet, andere Ausschnitte bleiben zufällig erkennbar und behalten das letzte Wort –
vielleicht nur, um frühere Schichten zu verdecken: ‚Nichts is gefährliche als di Wahrhei‘
kann man auf Sternfeld (2015) lesen. Im Modellieren des bebilderten Materials findet eine
laufende Bewertung statt, ohne dass das zuletzt sichtbare auch das entscheidende Bild sein
muss.
Die wie eine affichistische Moritatentafel wirkende Stellwand-Skulptur Sternfeld zeigt das
Foto eines Fachwerkhauses, in dessen gekreuzte Balken jemand das gelbe Castor-X-Symbol
hineingemalt hat. Ein schreiendes Haus, aus dessen Wand ein alarmierendes Zeichen tritt, ein
X in der Wand, ein Buchstabe von Feuer, der mit der Konstruktion verschmilzt beziehungsweise
in sie hineingesehen wird. Das X steht bekanntlich für „Alles Mögliche“, und man würde einer
falschen Fährte aufsitzen, ließe man sich zu Deutungen verleiten, denn hier geht es um die
Verbindung des Zeichens mit der Konstruktion. Dieses besondere X setzt die Kristallisation
von Bedeutung aus der Materie, für das „Heraus“ der Aussage aus dem Leib des Werks ins Bild
als einen Effekt der Infrastruktur. Aus diesem ländlichen Menetekel heraus vergrößert,
erscheint es auf der Außenseite von Pierre I (2014). Pierre I hält damit gewissermaßen einen
Vortrag über sich selbst: Die Arbeit formuliert mit diesem auftapezierten Druck das
bildhauerische Programm einer materiellen Verzahnung von Struktur und Aussage, von innerer
Entwicklung und Extroversion. Folgerichtig erfährt das X-Plakat selbst eine plastische
Verarbeitung und übernimmt eine pseudo-architektonische Scheinfunktion im Rollenaufbau der
Skulptur.
Jens Nippert strebt eine ostentative Skulptur an, die sich eher mit einer Bildröhre
vergleichen ließe als mit einer Litfasssäule: Eben kein bloßer Bildträger, sondern ein
emittierendes Volumen, das von innen heraus strahlt. Doch auch dieser Vergleich hinkt, und
deshalb baut er Plastiken, die sich von einem inneren Kern her, sei er real oder imaginiert,
entwickeln. Hohlkörper sind unglaubwürdig; Nippert genügt es nicht, an Außenseiten entlang
zu modellieren. Er nimmt die Beziehung zwischen Inhalt und Form ganz wörtlich als
baupraktischen Zusammenhang, bei dem die Außenform durch Machenschaften in ihrem Inneren
bestimmt wird.
Die „Arbeitsutopie“ (was eine unmögliche Idee meint, die gleichwohl Äquivalente in der
Praxis findet) eines aktiven Kerns, der Traum einer Immersion des Bildhauers in der Plastik
gebiert gewissermaßen transparente Plastiken, die strukturiert sind durch eine mit der
Außenform kommunizierende Binnenkonstruktion. Bei Waldschulgesetz (2006) realisieren mit
erstarrtem Blei zentral verbundene Stahlskelette den inhaltlichen Kern der Plastik und
dessen Beziehungen zur Außenform. Bei Zick, Castor, und Hand/Faust-Grenze (2011-13)
geschieht die Einbeziehung des Inneren durch eine Fachwerk-Struktur aus Holz und Reet, die
den imaginierten Kern ersetzt. Diesem organischen Materialismus verdankt sich letztlich die
außerordentliche Lebendigkeit dieser Plastiken. Es sind von sich selbst durchdrungene,
körperliche Räume, die keiner intellektuellen Aufladung mehr bedürfen, da ihre inneren
Organe Sinn produzieren. Kongruenz, wenn nicht Identität von Innen und Außen verwirklicht
sich in ihnen ganz praktisch, Authentizität wird definiert als etwas, das man erarbeiten
kann.
Doch bei aller hart erarbeiteter selbstidentischer Körperlichkeit bleibt Bezüglichkeit
unvermeidlich. Die Imagination wird verbannt in die Konstruktion, doch wie radioaktiver
Abfall verschwindet sie nicht einfach, und wie bei einem Fachwerkhaus treten unweigerlich
Zeichen daraus hervor. Der Traum schafft die Oberfläche ab und kann doch nicht verhindern,
dass sich Verweise aus dem Körper lösen. Die gut verstaute Fracht taucht an der Oberfläche
auf: „Wehe dem, der Symbole sieht.“2
Bereits in den Reetbündeln, aus denen sich die Volumen dieser Plastiken aufbauen, ist ein
deiktisches Ungleichgewicht angelegt. Wie ein loser Stapel von Fingern, wie eine Hand ohne
Wurzelknochen, die abstrakte Gesten macht, weisen diese Skulpturen aus sich hinaus und
bieten Richtungen, Auswege an. Sie sind zugleich ostentativ wie Wegweiser und introvertiert
wie ein Fass. Index, Daumen, Bleistift Zigarette, sich gegenseitig rauchend.
Grenzen, Berührungen
Jens Nippert sucht nach dem Moment des Übergangs zwischen dem Einzelnen und einem Ganzen,
nach der Grenze zwischen Hand und Faust, einer Grenze, die er immer wieder zugleich
aufzuheben und neu bestimmen zu wollen scheint. Wo beginnt das eine, und muss das andere
deshalb aufhören? Die Glieder gehen eben gerade nicht im Ganzen auf, ihre Grenzen werden nur
so weit angelöst, dass sie sich verbinden können, ohne im Zusammenhang zu verschwinden. Die
Agglomeration der Dinge geschieht nicht in einer katastrophischen Überhitzung des Ganzen,
durch plötzliches Tauwetter oder einen Dammbruch, sondern langsam, bewusst und sorgfältig
abwägend, wie weit es mit dem Einzelnen im Zusammenhang gehen soll. Im plastischen
Verarbeitungsprozess bleiben einzelne Exemplare der Ausgangsobjekte erkennbar und stehen als
unverdaute Readymades aus dem aufgeweichten Matsch aus Papier und Kleister heraus.
Auch die Keramiken sind von einem Wechselverhältnis von Zusammenschluss und Absetzung
geprägt und setzen sich aus zu unterschiedlichen Graden ineinander verlaufenden Klößen oder
Walzen zusammen. Das erinnert an halb offene oder sich schließende Hände, an verschränkte
Finger, Arme, Leiber, ohne anatomisch fixierbar zu sein. Die Plastiken sind nie eindeutig in
einer Geste oder zu einer einzigen Form oder Figur gefesselt. Da scheint sich die Plastik
gerade selbst zu umarmen, und kaum angedeutet versinken die Gliedmaßen wieder in einer
undifferenzierten Fläche, die von den modellierenden Fingern nach einem Halt, einem Relief,
einer Wölbung abgesucht worden zu sein scheint. Auf der Oberfläche sammeln sich die Spuren
der Materialbewegung, ungeglättet, verwischt und überlagert nur durch weitere Spuren. Der
Materialauftrag kann durch sorgfältiges Aufbauen geschehen oder durch lapidares
Dranklatschen oder Besudeln - hier und da könnten Tiere am Werk sein, pillendreherhaft,
schwalbennestartig wird das Material zusammengebacken -, aber stets erzählt die Oberfläche
der Plastiken von Berührungen unterschiedlicher Art und Intensität. Die Keramiken sind
Spurensammler, sie leben von der spezifischen Berührung, vom jeweils anderen Angefasstsein
jeder Stelle. Auf der Oberfläche als Austragungsort einer formgebenden Befragung vermischen
sich Spuren und Abdrücke von flüchtigen Berührungen, distanzierten Untersuchungen und ins
Volumen eindringenden Schlägen, von Händen und Handschuhen. Die Oberfläche ist eine
plastische Landkarte miniaturisierter Handlungen, die sich selbst kartografieren. Eine Spur
läuft über die Form, eine Stelle wird näher untersucht, ausgetreten, abgegriffen, und
anderswo wird begonnen zu graben. Die Touchscreens sind Materialbilder, in denen das
Modellieren zu einem Theater der Berührungen wird, Anfassbilder, die nichts anderes
darstellen als eine berührte Oberfläche.